Die echte Wahlfeststellung
Grundsätzlich muss das Gericht genau feststellen nach welcher Straftat sich der Angeklagte strafbar gemacht hat. Dabei ist es durchaus wichtig, ob der Täter einen Diebstahl oder einen Betrug begangen hat. Ist man sich nicht sicher, dass der Täter die angeklagte Straftat begangen hat, gilt in Deutschland in dubio pro reo. Der in dubio pro reo Grundsatz besagt, dass wenn Zweifel über die Schuld des Angeklagten bestehen, zugunsten des Angeklagten entschieden werden muss. Sobald das Gericht Zweifel hat, ist dieser Grundsatz anzuwenden und von der für den Angeklagten besseren Möglichkeit auszugehen. Bei einer uneingeschränkten Anwendung dieses Grundsatzes käme es aber in manchen Konstellationen zu unbilligen Ergebnissen. So eine Unbilligkeit kann zum Beispiel dann vorliegen, wenn nach Abschluss der mündlichen Verhandlung feststeht, dass der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht hat, aber unklar geblieben ist, durch welche Handlung konkret die Verwirklichung ausgelöst wurde. Würde man in diesem Fall in dubio pro reo annehmen müsste der Angeklagte freigesprochen werden. Damit diesem Unrecht aus dem Weg gegangen werden kann, wird von der herrschenden Meinung eine Wahlfeststellung angenommen. Demnach kann der Täter unter bestimmten Voraussetzungen wahlweise nach dem einen oder anderen Tatbestand bestraft werden.
- Voraussetzungen der echten Wahlfeststellung
Damit die Wahlfeststellung zulässig ist, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Eine Voraussetzung ist beispielsweise, dass auch nach Ausschöpfung sämtlicher prozessualer Erkenntnismittel nicht zu beseitigende Umstände in der Aufklärung des Sachverhalts vorliegen. Dabei muss aber klar sein, dass bei jeder der in Frage kommenden Sachverhaltsvarianten die Möglichkeit einer Verletzung eines Straftatbestandes besteht. Sofern beide Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch vergleichbar und gleichwertig sind, kann eine Wahlfeststellung angenommen werden. Unter rechtsethischer Vergleichbarkeit ist nach dem allgemeinen Rechtsempfinden sittlich und rechtlich vergleichbare Bewertung und damit annähernd gleich Schwere der Schuldvorwürfe zu verstehen. Eine psychologische Vergleichbarkeit liegt hingegen vor, wenn die Einstellung des Täters zu den Rechtsgütern und seine Motivationslage ähnlich ist.
- Entscheidung des BGH
Der BGH erachtete das Rechtsinstitut der echten Wahlfeststellung nach Art. 103 II GG als verfassungswidrig. Der 2. Senat des BGH war der Auffassung, dass es sich bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht nur um richterrechtliche Rechtsfortbildung im Bereich des Strafverfahrens handele, sondern um eine Rechtsfigur die strafbegründend wirke. Sie verletze daher das Analogieverbot aus Art. 103 II GG.
Der 2. Strafsenat führte dazu aus:
„Wenn die Voraussetzungen der alternativ in Frage kommenden Strafnormen jeweils nicht sämtlich zur Überzeugung des Tatgerichts feststellbar sind, führt die gesetzesalternative Verurteilung, die keinen eindeutigen Schuldspruch anhand des mildesten Gesetzes zulässt, nicht zur Anwendung einer der in Frage kommenden Strafnormen, sondern zur Aburteilung nur aufgrund eines gemeinsamen Unrechtskerns. Sie lassen sich dagegen nicht zu einer einheitlichen Schuldfeststellung verbinden. Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände gegenseitig aus, fehlt in der Wahlfeststellungssituation jeweils der Nachweis eines Tatbestandsmerkmals bei beiden Strafnormen. Die wahldeutige Verurteilung erfolgt nur aufgrund eines „Rumpftatbestandes“. Dies läuft auf eine „Entgrenzung“ von Tatbeständen oder auf „Verschleifung“ zweier Straftatbestände durch alternative Vereinigung der Einzelvoraussetzungen hinaus, die über die Verschleifung von verschiedenen Tatbestandsmerkmalen einer einzigen Strafnorm noch weit hinausgeht. Die Verurteilung beruht nämlich praktisch auf einer ungeschriebenen dritten Norm, die –angeblich- übereinstimmende Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigen soll. Da es an einem gemeinsamen Tatbestandsmerkmal fehlt, wird die in Gestalt einer –angeblichen- rechtsethischen Vergleichbarkeit fiktiv ergänzt.“
Der 1., 3., 4. und der 5. Senat des BGH hatten hingegen beschlossen an der Wahlfeststellung festhalten zu wollen. Demnach handele es sich „bei der Wahlfeststellung… um eine Entscheidungsregel, die, indem sie vorgibt, wie bei einer solchen Unaufklärbarkeit zu entscheiden ist, grundsätzlich mit dem Zweifelsatz vergleichbar ist. Da sie aber bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen für den Fall der sich gegenseitig ausschließenden Sachverhaltsalternativen nicht zu einer bestimmten Verurteilung oder zum Freispruch gelangt, sondern im Schuldspruch zu einer wahldeutigen Verurteilung bei Festsetzung der für die am wenigsten schwerwiegende Sachverhaltsalternative angemessenen Strafe, mag die Wahlfeststellung in einem Spannungsverhältnis zum Zweifelsatz stehen, ändert indes nichts an der Eigenschaft dieses Rechtsinstitutes als Entscheidungsregel, durch die die verfahrensrechtliche Frage beantwortet wird, wie mit der genannten Beweissituation umzugehen ist. Solche prozessualen Regelungen werden von Art. 103 II GG jedoch nicht erfasst.“
Da alle Senate an ihren Rechtsauffassungen festhalten wollten war der große Senat gem. § 132 GVG gezwungen zu entscheiden. Dieser schloss sich der Mehrheit der Senate an und sah die echte Wahlfeststellung als verfassungskonform an.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in der Zwischenzeit mit der echten Wahlfeststellung beschäftigt und sie als verfassungskonform angesehen.
[1] Frister, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen StGB, § 2, Rn. 1.
[2] Schmitz, in: MüKO StGB, § 1, Rn. 10.
[3] Hefendehl, in: MüKO StGB, § 263, Rn. 1008.
[4] BGH, Beschluss v. 08.05.2017 – GSSt 1/17, NJW 2017, 2842 (2843).
[5] BGH, Beschluss v. 08.05.2017 – GSSt 1/17, NJW 2017, 2842 (2844)
[6] BGH, Beschluss v. 24.06.2014 – 1 Ars 14/14, NStZ-RR 2014, 308 (309); BGH, Beschluss v. 16.07.2014 – 5 Ars 39/14, NStZ-RR 2014, 307 (308); BGH, Beschluss v. 30.09.2014 – 3 Ars 13/14, NStZ-RR 2015, 39 (40); BGH, Beschluss v. 11.09.2014 – 4 Ars 12/14, NStZ-RR 2015, 40 (41).
[7] BVerfG, Beschluss v. 05.07.2019 – 2 BvR 167/18, NJW 2019, 2837 (2839).